Genomik des Übergangs - vom Ich zum Wir

Research

Erstes Genom einer sozialen Amöbe - Dictyostelium discoideum - veröffentlicht.

Soziale Amöben sind eine Gruppe von Bodenmikroorganismen an der Grenze zwischen einzelligem und vielzelligem Leben. Bei Nahrungsknappheit bilden bis zu 100.000 einzellige Amöben einen vielzelligen Verband, der sich letztendlich in einen Fruchtkörper umformt, in dem sich Zellen (Stielzellen) opfern, um das Fortbestehen der anderer Zellen als Sporen zu sichern. Evolutionär betrachtet reicht die Entwicklungslinie der sozialen Amöben bis an die Basis der Aufspaltung in Pflanzen, Pilze und Tiere und kann deshalb die Ursprünge der Entwicklungsgeschichte komplexer Lebensformen beleuchten. Im biomedizinischen Labor ist ein Vertreter dieser Gruppe - Dictyostelium discoideum - seit mehr als 50 Jahren Modellorganismus für die Erforschung grundlegender zell- und entwicklungsbiologischer Fragestellungen, wie Zellbewegung, Signalübertragung, Differenzierung und „programmierter“ Zelltod.

Wissenschaftlern des Instituts für Biochemie I der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln und des ehemaligen Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMB) in Jena - jetzt Leibniz-Institut für Altersforschung - Fritz-Lipmann-Institut (FLI) - ist es nach mehrjähriger Arbeit gelungen, gemeinsam mit Gruppen aus den USA und UK das Genom von Dictyostelium discoideum zu entziffern. Im Rahmen der Initiative der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) "Sequenzierung von Genomen kleiner Organismen" haben die deutschen Forscher mehr als die Hälfte des rund 34 Millionen Bausteine umfassenden Genoms analysiert.

Obwohl einhundert mal kleiner als das des Menschen, fanden die Forscher im D. discoideum Genom etwa 12.500 Gene. „Während wir uns im Verlauf des Human-Genom-Projekts mit immer kleiner werdenden Genzahlen konfrontiert sahen, ist die eigentlicher Überraschung bei D. discoideum die unerwartet hohe Zahl von Genen. Der Mensch hat nicht einmal doppelt so viel.“, meint Dr. Gernot Glöckner, Leiter des Dictyostelium-Projekts am IMB. Diese große Zahl von Genen spiegelt offensichtlich die komplexen Anforderungen sowohl des Lebensraums als auch der mehrzelligen Phase des Lebenszyklus der Amöbe wieder. Auffallend viele Gene sind für die Produktion und den Export niedermolekularer Substanzen verantwortlich, die der Ernährung, Abwehr von Feinden und Kommunikation zwischen Dictyostelium-Zellen dienen könnten.

Die Analysen zeigen, dass wesentliche Bestandteile der Zellmaschinerie, wie sie in komplexeren Organismen gefunden werden, schon in dieser relativ einfachen Lebensform vorhanden sind. Eine Proteom-basierte Stammbaumanalyse belegt, dass die Abtrennung der sozialen Amöben nach der Pflanze-Tier-Verzweigung aber vor der Pilz-Tier-Aufteilung erfolgt ist. Damit scheint das Genom des gemeinsamen Urahnen facettenreicher gewesen zu sein, als bisher angenommen, und D. discoideum mehr von dieser Vielfalt des Ur-Genoms bewahrt zu haben, als jeweils Pflanzen, Tiere oder Pilze. Die nahezu vollständige Genomsequenz erhöht die Attraktivität von D. discoideum als biomedizinisches Modell. „Wir haben nun die Möglichkeit, modernste genomweite Chip-basierte Analyseverfahren zu entwickeln.“, meint Dr. Ludwig Eichinger vom Institut für Biochemie I der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln und Koordinator des DFG-Projekts. Solche Verfahren sind bei der Verwendung von D. discoideum als Infektionsmodell für die Erforschung der molekularen Ursachen der Legionärskrankheit und anderer opportunistischer Krankenhausinfektionen von größtem Interesse. Besondere Bedeutung wird D. discoideum auch für die Charakterisierung derjenigen menschlichen Gene erlangen, deren Funktion noch völlig unbekannt ist und/oder deren Veränderungen Krankheiten verursachen, die aber in anderen einzelligen Modellorganismen nicht mehr vorhanden sind. Im Zusammenhang mit beim Menschen krankheitsverursachenden Wiederholungen von einzelnen Eiweißbausteinen fällt auf, dass im D. discoideum-Genom solche Veränderungen am häufigsten im Vergleich zu allen anderen derzeit bekannten Genomen gefunden wurden. Ein zukünftiges Verständnis, wie D. discoideum diese Eiweißmotive toleriert, könnte zu neuen Therapieansätzen beim Menschen führen.

Publikation

Eichinger L, Pachebat JA, Glöckner G, Rajandream MA, Sucgang R, Berriman M, Song J, Olsen R, Szafranski K, Xu Q, Tunggal B, Kummerfeld S, Madera M,Konfortov BA, Rivero F, Bankier AT, Lehmann R, Hamlin N, Davies R, Gaudet P, Fey P, Pilcher K, Chen G, Saunders D, Sodergren E, Davis P, Kerhornou A, Nie X, Hall N, Anjard C, Hemphill L, Bason N, Farbrother P, Desany B, Just E, Morio T, Rost R, Churcher C, Cooper J, Haydock S, van Driessche N, Cronin A,Goodhead I, Muzny D, Mourier T, Pain A, Lu M, Harper D, Lindsay R, Hauser H, James K, Quiles M, Madan Babu M, Saito T, Buchrieser C, Wardroper A, Felder M, Thangavelu M, Johnson D, Knights A, Loulseged H, Mungall K, Oliver K, Price C, Quail MA, Urushihara H, Hernandez J, Rabbinowitsch E, Steffen D,Sanders M, Ma J, Kohara Y, Sharp S, Simmonds M, Spiegler S, Tivey A, Sugano S, White B, Walker D, Woodward J, Winckler T, Tanaka Y, Shaulsky G,Schleicher M, Weinstock G, Rosenthal A, Cox EC, Chisholm RL, Gibbs R, Loomis WF, Platzer M, Kay RR, Williams J, Dear PH, Noegel AA, Barrell B, Kuspa A. The genome of the social amoeba Dictyostelium discoideum. Nature. 2005, 435(7038), 43-57. doi:10.1038/nature03481